Zeitenwende bei der Strom-Versorgungssicherheit
Die deutsche Energiewende ist kein nationales Projekt im stillen Kämmerlein. Im Gegenteil. In Zukunft wird Deutschland bei der Stromversorgung noch enger mit seinen Nachbarn zusammenarbeiten. So trägt der Stromaustausch über Ländergrenzen hinweg dazu bei, die sichere und kosteneffiziente Versorgung bei Spitzen im Verbrauch und Flauten bei der Einspeisung zu gewährleisten – zum Beispiel, weil der Wind nicht weht oder die Sonne nicht scheint.
Auf einem gemeinsamen Markt helfen sich die Nachbarstaaten gegenseitig aus. Statt die Nachfrage vollständig aus eigenen Kraftwerken zu decken, kann bei Engpässen auch Strom aus dem Ausland genutzt werden. Oder umgekehrt: Ein Überschuss bei der Stromerzeugung im Inland kann von den Nachbarn abgenommen werden. Das ist ein großer Vorteil. Denn wie die Erfahrung zeigt, tritt die höchste Nachfrage nach Strom in den Ländern nicht gleichzeitig auf – und auch der Wind weht fast immer irgendwo in Europa. Es geht um ganz reale Synergien: Im regionalen Verbund brauchen wir weniger gesicherte Leistung und können erhebliche Kosten sparen.
Mit der Erklärung der "elektrischen Nachbarn" vom 8. Juni wird dieser Erkenntnis erstmals auf hoher politischer Ebene Rechnung getragen: Zwölf Nachbarstaaten in der Mitte Europas wollen künftig bei der Versorgungssicherheit zusammenarbeiten – sie haben zugesichert, dass sie sich aufeinander verlassen können, trotz ihrer teilweise unterschiedlichen Energiepolitiken. Die Vereinbarung trägt also dazu bei, die Vorteile des Energiebinnenmarktes zukünftig voll auszuschöpfen. "Heute haben zwölf Nachbarstaaten in der Mitte Europas eine Zeitenwende in der Energiepolitik beschlossen: Sie wollen Versorgungssicherheit künftig nicht mehr rein national, sondern europäisch denken", sagte Bundeswirtschaftsminister Sigmar Gabriel (hören und lesen Sie dazu auch das Interview mit dem Bundesminister).
"Elektrische Nachbarn": Versorgungssicherheit länderübergreifend garantieren
Die Unterzeichnung des Abkommens der zwölf "elektrischen Nachbarn" – hier die gesamten geografischen Nachbarn sowie Norwegen und Schweden – erfolgte am Rande des EU-Energieministerrats in Luxemburg am 8. Juni. Es legt konkrete Schritte der Zusammenarbeit für eine sichere, kostengünstige und nachhaltige Energieversorgung fest. So definiert die Kooperationsvereinbarung gemeinsame Grundsätze beim Umbau der Energieversorgung: die sogenannten "no-regret"-Maßnahmen. Auf diese haben sich die Unterzeichner geeinigt – bildlich gesprochen hält die Erklärung also fest, welche Schritte man gemeinsam gehen möchte, auch wenn am Ende bei der Ausgestaltung der nationalen Strommärkte unterschiedliche "Abzweigungen" genommen werden.
Die gemeinsame Erklärung umfasst insbesondere folgende Kernaussagen:
- Die Nachbarstaaten wollen die Vorteile des europäischen Energiebinnenmarkts zur Gewährleistung von Versorgungssicherheit voll ausschöpfen.
- Die Nachbarstaaten werden die Netze weiter ausbauen, ihre Strommärkte enger verknüpfen und den Stromhandel auch in Zeiten von Knappheit nicht begrenzen.
- Die Nachbarstaaten werden künftig die Versorgungssicherheit verstärkt im europäischen Verbund betrachten und hierfür ein gemeinsames Verständnis und eine gemeinsame Berechnungsmethodik entwickeln.
- Die Nachbarstaaten vereinbaren, verstärkt auf die Flexibilisierung von Angebot und Nachfrage zu setzen und dafür Marktsignale und Preisspitzen zu nutzen. Sie kommen darin überein, keine gesetzlichen Preisobergrenzen einzuführen und Flexibilitäts-Barrieren abzubauen.
Der Flexibilität kommt im künftigen Versorgungssystem eine zentrale Rolle zu: Ging es in der Vergangenheit in Deutschland und Europa vor allem darum, die Erneuerbaren fit für den Markt zu machen, laute die Aufgabe nun, den Markt fit für die Erneuerbaren zu machen, sagte Gabriel. Ein flexibler Verbrauch (etwa durch zeitliche verschiebbare Lasten) und ein flexibles Angebot (zum Beispiel durch leistungsfähige Netze, die den Strom dorthin transportieren, wo er gebraucht wird, oder durch moderne Kraftwerke, die schnell hochgefahren werden können) gelten als entscheidende Stellschrauben, wenn der Anteil der naturgemäß unsteten erneuerbaren Energien am Strommix weiter steigt.
Regionale Versorgungssicherheit = geringere Kosten
Die gemeinsame Erklärung der "elektrischen Nachbarn" ist das Resultat eines Dialogs, den der Staatssekretär im Bundesministerium für Wirtschaft und Energie (BMWi), Rainer Baake, im Juli 2014 ins Leben gerufen hatte, um unsere Entscheidung zum Strommarktdesign mit den europäischen Nachbarn abzustimmen. Das Ergebnis waren sehr substantielle und offene Gespräche über die Herausforderungen der Energiewende im regionalen Verbund. Nach nur vier Konferenzen standen unter dem Strich zwei Dinge: Vertrauen und eine konkrete politische Erklärung.
Das ist jedoch nicht das einzige Forum, in dem Deutschland mit seinen Nachbarländern zusammenarbeitet: Die Erklärung der "elektrischen Nachbarn" geht Hand in Hand mit der "Zweiten politischen Erklärung des Pentalateralen Forums", die ebenfalls am 8. Juni anlässlich des 10-jährigen Bestehens des Forums unterzeichnet wurde. Neben Regierungsvertretern arbeiten im Pentalateralen Forum auch die Übertragungsnetzbetreiber, Aufsichtsbehörden und weitere Marktakteure aus den Benelux-Staaten, Frankreich, Deutschland, Österreich sowie der Schweiz an der Integration ihrer Strommärkte.
Im März 2015 wurde erstmals ein regionaler Versorgungssicherheitsbericht vorgelegt, der zeigte, dass Versorgungssicherheit im regionalen Verbund deutlich effizienter erreicht werden kann. Ende Mai haben die Nachbarstaaten des Pentalateralen Forums zudem – als erste Region in Europa – die sogenannte lastflussbasierte Marktkopplung ("Flow-based Market Coupling") eingeführt, mit der sich die grenzüberschreitenden Transportkapazitäten im Stromnetz genau ermitteln lassen. Das maximiert den Stromhandel über Ländergrenzen hinweg, verbessert dadurch die Versorgungssicherheit und lässt die Strompreise sinken, da Engpässe besser ausgeglichen werden können.
Gemeinsame Erklärungen unterstützen Entscheidung für Strommarkt 2.0
Bundesminister Gabriel unterstrich die Bedeutung der Erklärungen für die Strommarktentscheidung in Deutschland und Europa: "Die gemeinsam unterzeichneten Erklärungen unterstützen unsere anstehende Entscheidung für den Strommarkt 2.0. Ich hoffe, dass sie auch in Brüssel gehört werden. Die aktive Unterstützung der Kommission bei diesen Erklärungen stimmt mich zuversichtlich", sagte er. Mit dem sogenannten Weißbuch für den Strommarkt 2.0 wird das Bundesministerium für Wirtschaft und Energie (BMWi) demnächst konkrete Lösungsvorschläge vorlegen, wie die zunehmend erneuerbare Stromversorgung in Deutschland in Zukunft sicher und kosteneffizient gewährleistet werden kann. Sie beruhen auf einem umfassenden Dialog mit allen Beteiligten, dessen Diskussionsstand das Grünbuch "Ein Strommarkt für die Energiewende" im Herbst 2014 zusammengefasst hat und das im Anschluss öffentlich beraten wurde. Länder, Verbände, Unternehmen und Behörden haben dazu rund 700 Stellungnahmen eingereicht.