kontrovers
"Brauchen wir die neuen Hochspannungstrassen für die Energiewende?"

Zu dieser Frage äußern sich Stephan Kohler, Geschäftsführer der Deutschen Energie-Agentur (dena), und Matthias Willenbacher, Gründer der juwi AG und einer der Pioniere im Bereich Erneuerbare Energien.

Stephan Kohler

Portrait von Stephan Kohler, Geschäftsführer der Deutschen Energie-Agentur (dena) Stephan Kohler © dena

Vorsitzender der Geschäftsführung, Deutsche Energie-Agentur GmbH (dena):

"Mit der Energiewende verbinden viele Bürgerinnen und Bürger in Deutschland eine dezentralisierte Stromerzeugung, die allein durch Photovoltaikanlagen auf Hausdächern und regionale Windkraftwerke getragen wird. Deshalb wird häufig die Meinung vertreten, dass zentrale Strukturen der Elektrizitätswirtschaft wie etwa Hochspannungstrassen nicht mehr erforderlich sind.

Diese Vorstellung entspricht nicht den Tatsachen. Vielmehr ist das Gegenteil der Fall: Wir benötigen nicht nur den Ausbau der innerdeutschen Verbundnetze, sondern auch verstärkte Verbundleitungen mit unseren europäischen Nachbarn. Nach den heutigen Planungen der Bundesregierung wird im Jahr 2024 in Deutschland ein Kraftwerkspark mit einer Leistung von 230.000 Megawatt (MW) installiert sein. Davon entfallen rund 140.000 MW auf Photovoltaik-Anlagen und Windkraftwerke. Die Nachfrage aber wird zwischen 30.000 und 80.000 MW schwanken. Besonders viele Onshore- und Offshore-Windkraftwerke entstehen in Nord- und Ostdeutschland, das heißt in windstarken, aber dünn besiedelten Regionen. Hier wird also mehr Windkraftleistung aufgebaut, als benötigt bzw. verbraucht wird.

Ein Beispiel soll dies verdeutlichen: Schleswig-Holstein etwa will bis zum Jahr 2020 die Windkraftleistung auf rund 13.000 MW ausbauen, obwohl die höchste Nachfrage zu Spitzenlastzeiten im Winter bei nur rund 2.000 MW liegt. Zu anderen Zeiten ist die Nachfrage sogar noch geringer. Dies gilt auch für die anderen nördlichen und östlichen Bundesländer. Es besteht allerdings ein großer Transportbedarf vom Norden und Osten in den Westen und Süden Deutschlands. In diesen Landesteilen ist aufgrund der Bevölkerungsdichte und der Industriestruktur der Stromverbrauch wesentlich höher.

Deshalb benötigen wir die Trassen vom Norden nach Bayern und Baden-Württemberg, aber auch von Ostdeutschland Richtung Westen. Kommen die Leitungen nicht, müsste etwa der weitere Ausbau der Windkraftwerke im Norden von Deutschland sofort beendet werden."

Matthias Willenbacher

Portrait von Matthias Willenbacher, Gründer der juwi AG und einer der Pioniere im Bereich Erneuerbare Energien Matthias Willenbacher © juwi AG

Gründer und vertretungsberechtigter Vorstand der juwi AG:

"Smarte Technik statt dicker Leitungen: So geht Energiewende richtig! Über 800 Kilometer lang soll sie werden – die neue Stromautobahn 'Sued.Link'. Ohne sie und zwei weitere geplante Trassen könne die Energiewende nicht funktionieren, heißt es. In Wahrheit werden sie überschüssigen Kohlestrom aus NRW und der Lausitz sowie teuren Offshore-Windstrom in die südlichen Industrie- und Ballungszentren transportieren.

Echte Energiewende geht anders! Die mit Stein- oder Braunkohle befeuerten Großkraftwerke müssen runtergeregelt werden, wenn die Erneuerbaren ausreichend Strom liefern und nicht umgekehrt. Und Windräder gehören nicht aufs Meer sondern nahe an die Verbraucher – also in die Mitte und den Süden unseres Landes. Dort können sie dank großer Rotoren mit entsprechender Nabenhöhe und kleiner Generatoren in Zukunft gut 4.000 Volllaststunden im Jahr erreichen und so verlässlich sauberen Strom produzieren.

Zusammen mit günstigem Solarstrom haben wir zwei saubere Energiequellen, die sich ideal ergänzen. Durch kluge Anreize und moderne Technik (Smart Home, 'intelligente Kühlhäuser' u.v.m.) können wir heute schon einen Großteil unseres Stromverbrauchs in Zeiten verlagern, in denen Wind und Sonne mehr Energie liefern, als normalerweise gebraucht würde. Bis zur Fertigstellung der Trassen in frühestens zehn Jahren werden wir neben schon bestehenden Pumpspeicherwerken über eine Million Elektroautos verfügen, deren Kapazität die Jahreshöchstlast deutlich übersteigt. Auch können wir Wind und Sonne in Form von Gas speichern, das wieder in Strom verwandelt werden kann. Zusammen können so weit über 10.000 Megawatt abgepuffert und das Netz stabilisiert werden.

Große Kraftwerke und dicke Leitungen – das ist Energie-Infrastruktur aus der nuklear-fossilen Steinzeit. Die Energiewende hat dieses System vom Kopf wieder auf die Füße gestellt. Deshalb darf es auch beim Netzausbau kein 'Weiter so' geben. Die Erneuerbaren haben das Potenzial, nicht nur die Atomkraft sondern auch Kohle, Öl und Gas vollständig zu ersetzen – ganz ohne neue Stromautobahnen."

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