Mehr Strom ins Netz
Der 2. Stresstest fürs Stromsystem hat sich von Mitte Juli bis Anfang September 2022 mit der Versorgungssicherheit angesichts der angespannten Lage auf den Energiemärkten befasst. Wichtigstes Fazit der Untersuchungen: Die Versorgungssicherheit im Stromsystem ist weiterhin auf hohem Niveau gewährleistet. Eine Reihe von Maßnahmen kann zusätzlich dabei unterstützen, sie auf diesem Level zu halten.
Dazu gehört auch die zeitweise Höherauslastung der Übertragungsnetze, die seit Mitte Oktober durch eine Änderung des Energiewirtschaftsgesetzes (EnWG) möglich ist. Sie wird jetzt von den vier Übertragungsnetzbetreibern 50Hertz Transmission, Amprion, TenneT TSO und TransnetBW vorbereitet.
Das steckt dahinter: Die Übertragungsnetzbetreiber dürfen vorübergehend mehr Strom durchs Stromnetz schicken, also bei gleichbleibendem Spannungsniveau abhängig vom Wetter die Stromtragfähigkeit der Leitungen erhöhen. Mit der Höherauslastung könnten Netzengpässe und kostenintensive Eingriffe in das Stromnetz vermieden werden.
Kühle Witterung macht Höherauslastung möglich
Die höhere Auslastung ist möglich, da die Leitungen im Winter schon aufgrund der kalten Witterung in den kommenden Monaten gekühlt werden und damit die entstehende Wärme von ihnen abgeleitet werden kann. Frostige Temperaturen im Winter sind also eine coole Sache, wenn es um die Höherauslastung der Netze geht. Ein bis zwei Gigawatt mehr Übertragungskapazität könnten so gewonnen werden, schätzen Experten. Schon im Dezember sollen die Vorbereitungen für die ersten Leitungen abgeschlossen sein.
Viel Potential für eine Höherauslastung haben vor allem die sogenannten Freileitungen. Im Winter 2023/2024 soll auf Freileitungen mit einer Länge von insgesamt 4.000 Kilometern eine Höherauslastung von durchschnittlich mehr als 20 Prozent erreicht werden. Doch die Stromtragfähigkeit dieser Leitungen unterliegt bestimmten technischen Grenzen, die vor allem die Temperatur des Leiterseiles vorgibt. Je mehr Strom durchgeleitet wird, desto stärker erhitzt es sich. Steigt die Temperatur zu sehr an, können die Seile sich beispielsweise ausdehnen und stärker durchhängen.
Übertragungsfähigkeit der Leitungen wird stets aktuell berechnet
Der sogenannte Witterungsabhängige Freileitungsbetrieb (WAFB), auch bekannt als Freileitungsmonitoring (FLM), ist hier eine sichere Lösung. Bei diesem werden die Umgebungsbedingungen (vor allem die Witterung) entlang der Trasse beobachtet und für die Zukunft prognostiziert. So kann die bestehende Übertragungsfähigkeit der Freileitungen stets aktuell berechnet werden. Dahinter steht das NOVA-Prinzip: Netzoptimierung vor Verstärkung vor Ausbau. Das Prinzip zielt darauf ab, zunächst das bestehende Netz bestmöglich auszunutzen, bevor Netzverstärkungen oder Neubaumaßnahmen durchgeführt werden.
Dennoch entsteht bei der Höherauslastung eine magnetische Beeinflussung von parallel verlaufender Infrastruktur. Sie kann in einem geringen Umfang auftretende Korrosion erhöhen. Langfristig sollen die Übertragungsnetzbetreiber und Infrastrukturbetreiber deshalb zusätzliche technische Schutzmaßnahmen für einen witterungsabhängigen Freileitungsbetrieb umsetzen. Dafür werden zum Beispiel größere Erder für Rohrleitungen gebaut. Bis dahin ist die Höherauslastung befristet und an den Einsatz der Netzreservekraftwerke im Strommarkt gekoppelt.
Netz mit doppeltem Boden: Reserven im Stromnetz sichern Ausfälle ab
Meist jedoch geht die Erhöhung der Stromstärke gar nicht so sehr über die Auslegungsstromstärke der Leiterseile hinaus. Denn es werden immer Reserven im Netz für den Fall vorgehalten, dass das „größte Element“ ausfällt. Selbst dann werden innerhalb kurzer Zeit erneut Reserven zur Absicherung eines weiteren Ausfalls sichergestellt.
Vor einer Höherauslastung informieren die Übertragungsnetzbetreiber zunächst alle Unternehmen, deren technische Infrastruktur beeinflusst ist. Zusätzlich werden die Gemeinden informiert und die Höherauslastung wird im Bundesanzeiger angekündigt.